Das explorative Forschungsprojekt, das an der Hochschule Zittau/Görlitz (Dr. Hanna Haag) in Kooperation mit der Humboldt-Universität zu Berlin (Daniel Kubiak) durchgeführt wird, befasst sich mit der Frage, wie die gegenwärtige Situation nach den bundesweiten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie an deutschen Hochschulen von Lehrenden und Studierenden erlebt und erfahren wird und welche Herausforderungen sich für die genannten Akteursgruppen ergeben. Die meisten deutschen Hochschulen haben sich noch vor dem Semesterbeginn im April 2020 auf die neuen Begebenheiten teilweise in einem beispiellosen und für den akademischen Betrieb ungewohnten Tempo eingestellt.
Viele sehen in der Krise einen enormen Digitalisierungsschub. Was seit Jahren etwa über E-learning-Zentren auf den Weg gebracht wird, erfährt nun in einer Krisen- und Ausnahmesituation einen ersten Testlauf, jedoch nahezu ohne Vorlauf. Unter enormem Zeitdruck mussten Hochschulen auf die Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen im Zuge der Corona-Krise reagieren und das zu einem Zeitpunkt, als der reguläre Semesterbetrieb gerade in der Planung war oder an einigen Standorten (meist Hochschulen für angewandte Wissenschaften) sogar schon begonnen hatte. An der Humboldt-Universität wurden beispielsweise bis zu 80 % des Lehrprogramms innerhalb weniger Wochen auf „digital“ umgestellt1.
Die Maßnahmen sind weitreichend und treffen Hochschulen und vor allem deren Mitarbeiter*innen diverser Statusgruppen auf unterschiedlichen Ebenen: Büroräume, Bibliotheken und andere Gebäude werden geschlossen oder nur für eingeschränkten Zugang freigegeben. Der Start des Sommersemesters wird an die Ausbreitung des Virus und die entsprechenden Folgen angepasst, was sich auch mindestens auf die Planung des Wintersemesters auswirkt. Fristen für Prüfungen sowie Bewerbungs- und Zulassungsverfahren werden nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz geändert. Für elektronische Prüfungen wurden gegebenenfalls sogar die Prüfungsordnungen geändert. Binnen weniger Wochen mussten sich Lehrende und Studierende auf die ausschließliche Umsetzung des Lehrbetriebs im digitalen Raum einstellen, der bis dato überwiegend in Seminarräumen und Hörsälen stattfand. Aus einem allmählichen Wandel zu einem „Mehr an“ wurde ein „Zwang zu“ umfangreicher Digitalisierung. Das hatte Auswirkungen auf den persönlichen Umgang, die Arbeitszeiten und -bedingungen, die technische Qualifikationen und machte auch private Hardwareressourcen von Lehrenden und Studierenden zu einem neuen Ungleichheitsfaktor in der Bildungslandschaft.
Daneben zeichnen sich noch andere Auswirkungen der Krisenerfahrung ab. So verschärft die Umstellung auf das Arbeiten von zu Hause (dem so genannten ‚Home Office‘) bei einem gleichzeitigen Lockdown nahezu aller gesellschaftlichen Bereiche (z.B. Kindergärten, Schulen, ÖPNV, Verwaltung, Einkaufsmöglichkeiten, Kulturleben), die nicht als systemrelevant eingestuft werden (wie beispielsweise auch der gesamte wissenschaftliche Betrieb), die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Zwar muss auch die positive Wirkung des „Homeoffice“ vor dem Hintergrund von Vereinbarkeitsfragen durchaus eingeräumt werden (Wegfall von Arbeitswegen, effiziente Nutzung von Zeitressourcen, Flexibilisierung in der Ausgestaltung), doch im Zuge der Ausnahmesituation erleben viele Hochschullehrende und Studierende mit Kindern die Situation als prekär, denn die Arbeit muss weiter aufrechterhalten und das Studium fortgesetzt werden, während Homeschooling und Kinderbetreuung auf der Agenda stehen und je nach ökonomischer Lage Existenz- und Zukunftsängste die Konzentration erschweren. Auch wenn dies kein Hauptaugenmerk der Studie ist, sondern erst in einer Langzeitperspektive eingefangen werden kann, lässt sich vermuten, dass die Situation die Karrierewege von Frauen in der Wissenschaft bzw. das Studium weiblicher Personen mit Familie noch einmal erschwert und damit auf bestehende Missstände in der Ausgestaltung von Arbeits- und Lernbedingungen mit Blick auf die Geschlechterfrage hinweist (Degele 2020). Eine Auswirkung, die in erster Linie Studierende betrifft, ist die finanzielle Notlage, in die einige von ihnen durch die bundesweiten Maßnahmen geraten sind. So haben viele Studierende ihre Nebenjobs verloren, auf die sie angewiesen sind, um ihr Studium (teil) zu finanzieren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in dem genannten Forschungsprojekt neben den strukturellen Anpassungsleistungen – etwa der Bereitstellung von Online-Tools oder der Modifikation von Prüfungsanforderungen – die individuelle und kollektive Bewältigung der handelnden Subjekte im Fokus der Betrachtung steht.
Das Thema ist gesellschaftspolitisch sehr relevant, wie etwa zahlreiche öffentliche Briefe belegen, die ein „Nicht-Semester“ (Villa Braslavsky 2020) oder die Verteidigung der „Präsenzlehre“ (Ackermann et al. 2020) fordern. In vielen deutschen Städten, darunter in Leipzig und Dresden, treten Studierende öffentlich für eine Unterstützung der ungewissen finanziellen Situation und einen Ausweg aus der Neuverschuldung durch Kredite auf die Straße (Wahl 2020). Hinzu kommen Diskussionen um technische Nutzung und auch Datenschutzprobleme. Die Angst vor Schwierigkeiten, das Studium in der Regelzeit zu beenden, nimmt deutlich zu. Bisher ist allerdings wenig darüber bekannt, wie sich die Krisenerfahrung für Lehrende und Studierende konkret in der sozialen Interaktion auswirkt, was die Notwendigkeit von Forschungsarbeiten unterstreicht, die in diesem Themenfeld angesiedelt sind.
Die Arbeitsbedingungen in Bildungsberufen sind seit jeher unterschiedlichen Herausforderungen ausgesetzt gewesen. Wie Karin Lohr, Thorsten Peetz und Romy Hilbrich in ihrer Studie zur „Bildungsarbeit im Umbruch“ (Lohr/ Peetz/ Hilbrich 2013) nachzeichnen können, ist der Weiterbildungsmarkt vor allem durch Prekarisierung, das Schulwesen durch Bürokratisierung und die Wissenschaft durch Ökonomisierung betroffen. Spätestens durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und die Bolognareform der Studiengänge lassen sich auch für wissenschaftliche Mitarbeiter*innen vermehrt Aspekte der Prekarisierung feststellen. Obwohl die Entwicklung der westlichen Gesellschaften zu Dienstleistungs- und Informationsgesellschaften unaufhaltsam scheint, sind in der Bundesrepublik die wissenschaftlichen Tätigkeiten immer stärker mit dem Begriff des „akademischen Prekariat“ verbunden (Ohm 2016).
Die Bolognareform hat das Studium modularisiert, Kritiker*innen sagen verschult. Das Studium ist in Bachelor und Masterstudiengänge unterteilt und wird durch Standardisierung geprägt. Arbeitsleistungen werden in Leistungspunkten abgerechnet. Der Workload hat sich erhöht und die inhaltlichen Vorgaben sind enger. Hinzu kommt, dass in vielen Universitätsstädten (besonders in den sehr beliebten Großstädten) die Lebenshaltungskosten angestiegen sind und viele Studierende auf Nebenjobs angewiesen sind (Claus/Poietzionka 2013).
Hochschulen streben nach Digitalisierung. Das „Forum Bildung Digitalisierung“(FBD) und das „Hochschulforum Digitalisierung“ (HFD) treten für eine zukunftsorientierte Digitalisierung im Bildungswesen ein. Eine thesenhafte Zusammenfassung der Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung im Hochschulwesen belegt, dass dies zum einen ein langfristiger Prozess ist, der zum andern insbesondere auf die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure und deren Bedürfnisartikulation angewiesen ist (HFD). Gilch et al (2019) zeigen in ihrer umfangreichen Studie zur Digitalisierung der Hochschule, dass sich die Hochschulen schon seit längerer Zeit der Digitalisierung geöffnet haben, sich Struktur und Organisation des Prozesses jedoch standortgebunden stark unterscheiden.
„Es bestätigt sich, dass bei der Digitalisierung der Hochschulen - sei es hinsichtlich der Organisation als Ganzes wie auch differenziert nach den Kernaufgaben ihrer einzelnen Bereiche - eine komplexe Aufgabe auf komplexe Strukturen trifft, die zudem in ihrer Entwicklung und sowohl hochschulintern als auch hochschulextern von politischen Rahmenbedingungen und Einflüssen abhängig sind.“ (Gilch et al. 2019: 172)
Die Autor*innen messen den Digitalisierungsgrad in Forschung, Lehre und Verwaltung. Gerade im Bereich Lehren und Lernen wirken die Einzelkompetenzen der Lehrenden sowie der Studierenden. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie des Hochschulforum Digitalisierung aus dem Jahr 2016, die feststellt, dass es nicht die „Digital Natives“ per se gibt, sondern dass die Medienkompetenz der Lehrenden einen entscheidenden Faktor bildet. Um die Lehrenden wiederum in diesen Kompetenzen zu bestärken, braucht es auch gute Supportstrukturen. Digitalisierung bedeutet also nicht nur eine rein technische Transformation, sondern ist vielmehr ein umfassender Lernprozess. Noch im September 2019 titelte Markus Lücker im Tagesspiegel „Der lange Weg zu E-Klausuren, digitalen Vorlesungen und KI im Hörsaal“ (Lücker 2019). Nur ein halbes Jahr später musste dieser lange Weg eine rasante Abkürzung nehmen. Es ist davon auszugehen, dass sich nicht nur neue Entwicklungen durch Covid-19 finden lassen, sondern einige oben beschriebene Aspekte einfach nur verschärft haben.
Das Projekt weist einen starken Aktualitätsbezug auf. Inzwischen gibt es bereits einige wissenschaftliche Projekte, die sich mit den Auswirkungen der Corona-Krise in unterschiedlichen sozialen Feldern befassen2. In den Sozialwissenschaften sind eine Reihe von Surveys in den Umlauf gegangen. Diese standardisierten Fragebögen sind schnell gebastelt worden und fragen verschiedene Aspekte gesellschaftlicher Auswirkungen der Krise ab. Diese Form des schnellen Forschens ist nicht nur im ‚Bild-Drosten-Streit‘ thematisiert worden, sondern wurde auch innerhalb der Sozialwissenschaften bereits kritisch hinterfragt (Auspurg 2020). Mit unserer qualitativ explorativen und damit induktiven Studie wollen wir entgegen der Produktion schnellen Wissens mit Hilfe des Gruppendiskussionsverfahrens (Flick/ Kardoff/ Steincke 2000) tiefergraben, indem ein Austausch untereinander angeregt wird. Bei dieser Methode geht es darum, kollektives Wissen basierend auf ähnlichen Erfahrungen (in diesem Fall das Erleben der Krisensituation) über das gemeinsame Sprechen zugänglich zu machen. Da die Befragung aufgrund der Pandemie im digitalen Raum stattfinden musste, bildet sich die Besonderheit der derzeitigen Situation somit auch im Forschungsprozess ab: Nicht nur Lehrende und Studierende, sondern auch Forschende sind darauf angewiesen, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen.3
Die ersten Gruppendiskussionen wurden unmittelbar nach dem Covid-Lockdown angesetzt und auch durchgeführt. Wir haben so im April und Mai 2020 insgesamt sechs Gruppendiskussionen mit Lehrenden und Studierenden an zwei Hochschulen für angewandte Wissenschaften und an zwei Universitäten durchführen. Vertreten sind in unserem Sample jeweils eine Einrichtung in Ost- und Westdeutschland und bei den Lehrenden sowohl die Statusgruppe Mittelbau, als auch die Statusgruppe Professor*innen. Eine zweite Erhebungswelle soll im September 2020 durchgeführt werden, um die gleichen Teilnehmer*innen nochmal nach dem Semester zu ihren Erfahrungen zu befragen und dies kurz vor Beginn des vermutlich erneut digital stattfindenden Wintersemester 2020/2021. Während die ersten Diskussionen noch in für alle aufregenden Zeiten stattgefunden haben, soll es nun darum gehen, mit etwas Abstand über die Erfahrungen zu reflektieren und die Planung des kommende Semesters in den Blick zu nehmen.
Die Gruppendiskussionen werden mit der qualitativen Inhaltanalyse (Mayring 2007) in Kombination mit punktuell sequentieller Feinanalyse (Bohnsack 2000) ausgewertet und wir werden so in der Lage sein eine Typenbildung vornehmen zu können und Aussagen darüber treffen, wie sich die aktuelle Situation auf den akademischen Alltag ausgewirkt hat.
Das Projekt wird gefördert von der Max-Traeger-Stiftung.
Dr. phil. Hanna Haag
daniel.kubiak(at)sowi.hu-berlin.de